Die Macht des guten Arguments

In diesem Beitrag wird es um die Kraft guter Argumente im Journalismus gehen. Argumente kommen im vernünftigen Umgang von Personen miteinander vor allem dann ins Spiel, wenn es Unstimmigkeiten zwischen den Akteuren gibt. Sie können aber auch einfach das Verständnis für bestimmte Überzeugungen oder Handlungsoptionen vertiefen. Wie wir sehen werden, gibt es eine ganze Reihe von positiven Resultaten, die der Rückgriff auf Argumente in solchen Situationen haben kann.

Nicht immer lassen sich bestehende Unstimmigkeiten argumentativ ausräumen, aber in den meisten Fällen lernt man etwas bei dem Versuch, was alle Beteiligten voran bringen kann. Dies gilt insbesondere auch für den Journalismus, der ja unter anderem die Aufgabe hat, gesellschaftliche Konflikte möglichst rational zu rekonstruieren und somit zum kritischen Verständnis und zur Meinungsbildung in den beteiligten Öffentlichkeiten, sowie im besten Fall zu einer Lösung der Konflikte beizutragen.

Bei Wikipedia habe ich kürzlich noch die folgende Definition gefunden: Ein Argument sei “eine Abfolge von Aussagen, die aus einer oder mehreren Prämissen und einer Konklusion besteht”, und weiter: “Diese werden mit dem Anspruch vorgetragen, dass die Prämissen die Konklusion zwingend begründen oder stark nahelegen”. Dies geschehe “mit dem Ziel, eine Entscheidung über die Wahrheit einer Behauptung oder die Annahme eines Vorschlags zu finden”. (Mittlerweile wurde diese Definition überarbeitet und ist jetzt ein wenig zu kleinteilig, um sie hier zum Ausgangspunkt zu nehmen.)

Eine “Entscheidung über die Wahrheit einer Behauptung oder die Annahme eines Vorschlags” – hier kommt wieder die bereits in einem früheren Beitrag angesprochene Unterscheidung zwischen desktiptiven und normativen Aussagen zur Anwendung. Argumente umfassen beide Kategorien.

Wir können die oben zitierte Definition der Wikipedia vielleicht folgendermaßen für unsere Zwecke modifizieren: Ein Argument ist die Zusammenstellung eines deskriptiven oder normativen Claims (Konklusion) mit einer Reihe von deskriptiven oder normativen Gründen (Prämissen), die diesen Claim entweder stützen (im Grenzfall: beweisen) oder schwächen (im Grenzfall: widerlegen).

Man kann ein Argument auf zwei Weisen kritisieren:

  1. Man bestreitet die Wahrheit (im deskriptiven Fall) oder Geltung (im normativen Fall) der Gründe;
  2. Man bestreitet den stützenden / schwächenden Zusammenhang zwischen Claim und Gründen.
Mit Argument Mapping lassen sich stützende und schwächende Gründe veranschaulichen.

Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, das dies verdeutlicht. In den USA diskutieren eine Befürworterin und ein Gegner von Donald Trumps Mauer-Projekt an der mexikanischen Grenze miteinander. Die Befürworterin argumentiert folgendermaßen:

  • (Konklusion) Die Mauer muss her,
  • (Prämisse 1) denn die Zahl der Latino-Einwanderer muss beschränkt werden
  • (Prämisse 2) und die Mauer würde die Zahl der Latino-Einwanderer massiv beschränken.

Wir stellen fest, dass dieses Argument eine normative Behauptung (“Die Mauer muss her”), die das Argumentationsziel darstellt, mit einer weiteren normativen Behauptung (“Die Zahl der Latino-Einwanderer muss beschränkt werden”) und einer deskriptiven Behauptung (“Die Mauer würde die Zahl der Latino-Einwanderer massiv beschränken”) begründet. Das Argument entspricht in etwa dem, was in der aristotelischen Tradition als ‘praktischer Syllogismus’ bezeichnet wird.

Der Gegner des Mauerprojekts hätte jetzt – siehe oben – zwei Wege, wie er dieses Argument entkräften könnte:

  1. Er könnte die Wahrheit mindestens einer der Prämissen in Frage stellen;
  2. Er könnte die Wahrheit der Prämissen einräumen, aber bestreiten, dass die Prämissen die Konklusion wirklich stützen.

Für den ersten Weg könnte er beispielsweise darauf hinweisen, dass die meisten Latino-Einwanderer nicht auf illegalem Weg über die ungeschützte Grenze in die USA gelangen und damit die Wahrheit von Prämisse (2) bestreiten. Für den zweiten Weg könnte er zum Beispiel argumentieren, dass der Bau der Mauer mit so vielen versteckten Nachteilen verbunden ist (finanzielle Kosten, Verschlechterung der Beziehungen zum Nachbarland, ökologische Schäden, etc.), dass diese den ‘Vorteil’ einer massiven Beschränkung der Zuwanderung wieder wettmachen würden.

Aber nicht immer kann man natürlich gleich ‘besseres Wissen’ ins Spiel bringen, und so kann es auch eine vernünftige Strategie sein, bei der Gesprächspartnerin nachzuhaken, und sie aufzufordern, ihre Prämissen weiter zu erläutern, beispielsweise indem man nach Gründen für ihre Gründe fragt: “Aber warum glauben/finden Sie, dass…”.

“Warum”, so könnte eine solche Frage lauten, “sind Sie denn der Meinung, dass die Zahl der Latino-Einwanderer beschränkt werden sollte?” Nehmen wir einmal an, dass unsere Trump-Freundin antwortet: “Mich beunruhigt die Gewalt in unseren Städten, die muss ein Ende haben. Und die Latinos sind für diese Gewalt verantwortlich!”

Jetzt haben wir die (normative) Prämisse “Die Zahl der Latino-Zuwanderer muss beschränkt werden” selbst zur Konklusion eines Arguments gemacht, und zwei weitere Prämissen der Akteurin identifiziert:

  1. Die Gewalt in den Städten muss ein Ende haben.
  2. Weniger Latinos würden die Gewalt in den Städten beenden.

Und hier besteht realistischerweise die Chance, dass der Trump-Gegner zum erstenmal seiner Kontrahentin in Teilen zustimmen kann: Auch er, so können wir annehmen, hält die Gewalt in den amerikanischen Städten für ein Problem, das gelöst werden muss. Er könnte jetzt folgendermaßen argumentieren: “Da sind wir ganz beieinander. Auch ich bin der Meinung, dass wir das Problem der Gewalt in den Städten lösen müssen. Allerdings glaube ich nicht, dass dafür die Latinos verantwortlich sind. Es gibt empirische Studien, die zeigen, dass Gewalt in den Städten nicht primär ethnische Ursachen hat. Viel besser wäre es, mit einer strengeren Waffengesetzgebung und sozialen Maßnahmen wie z.B. höheren Mindestlöhnen der Gewalt zu begegnen.” Die Argumentationslast zwischen den Kontrahenten hätte sich jetzt auf die Verteidigung oder Abwägung deskriptiver Prämissen verschoben.

Somit wird auch sichtbar, welche Ziele der argumentative Diskurs haben kann:

  • Er kann strittige deskriptiven Prämissen identifizieren, um sie einer sachlichen Klärung zuzuführen;
  • Er kann von den Kontrahenten geteilte normative und deskriptive Prämissen (z.B. geteilte Werte) identifizieren und somit eine Kompromissfindung erleichtern;
  • Er kann außerdem einen nicht auf den ersten Blick sichtbaren zugrundeliegenden Dissens in grundlegenden Präferenzen oder Werten identifizieren, der entweder ausräumbar oder nicht ausräumbar ist. Dazu später mehr.

Was für eine Funktion haben Argumente nun im Journalismus? Zum einen sind die sogenannten ‘meinungsbasierten’ Formate, über die ich bereits in einem anderen Beitrag nachgedacht hatte, idealerweise argumentativ aufgebaut. Das heißt, in einem Kommentar oder Leitartikel sollte die Verfasserin nicht einfach von sich geben, was sie gut findet, und sich ggf. von anderen Positionen abgrenzen. Es kommt auch darauf an, die vertretenen Positionen zu begründen, und sich damit im argumentativen Raum im Vergleich zu anderen Akteuren zu verorten. (Wir haben allerdings in der Textausbildung mit den Studierenden gemeinsam viele Kommentare deutscher journalistischer Medien gelesen und studiert, und wir waren überrascht, wie oft diese elementare Regel nicht befolgt wird.)

Aber auch in Analysen spielt die Betrachtung von Argumenten eine wesentliche Rolle. Politik basiert eigentlich immer auf Interessenkonflikten. Wenn wir in unseren Analysen die verschiedenen Akteure oder Akteursgruppen mit ihren Interessen und Positionen identifiziert haben, ist keineswegs immer auf den ersten Blick klar, warum sie diese Positionen vertreten. Nehmen wir das Beispiel Brexit. Sowohl die Konservativen als auch die Führung der Labour-Partei haben in den letzten Wochen anti-europäische Positionen vertreten und auf die eine oder andere Weise auf einen Brexit hingearbeitet. Es ist offenkundig, dass sie dafür ganz unterschiedliche Gründe hatten. Der Dissens, der uns hier interessieren wird, liegt nicht auf der Ebene der Positionen, sondern auf der Ebene der dahinter liegenden Begründungen.

Es kommt hinzu, dass die wirklichen Gründe nicht immer mit den nach außen vertretenen Gründen übereinstimmen. Eine gründliche journalistische Aufarbeitung muss hier alle Mittel auch investigativer Recherche in Anschlag bringen, um die tatsächlich handlungsrelevanten Gründe zu identifizieren. Das ist nicht nur für ein Verständnis der politischen Lage notwendig, es zeigt darüber hinaus auch potentielle Lösungswege auf.

Nicht immer lassen sich natürlich Konflikte auf argumentativem Weg beilegen. In vielen Fällen liegen dem vermeintlichen Dissens in der Sache einfach konfligierende Machtansprüche zugrunde. Oder er lässt sich zurückführen auf grundlegende Wertedifferenzen. So lassen sich rivalisierende liberale, konservative oder soziale politische Positionen in vielen Fällen auf eine unterschiedliche Gewichtung der Werte Freiheit, Sicherheit/Stabilität und Gerechtigkeit/Gleichheit zurückführen. (Vielleicht ist diese Aussage aber auch selbst irreführend und ideologisch. Zumindest in jüngster Zeit vermitteln einzelne konservative Parteien eher den Eindruck, die Hazardeure der Politik, und nicht die Verfechter von Stabilität und Sicherheit zu sein.)

In jedem Fall beruht schon die Annahme, dass sich Politik zumindest zum Teil als ein Wettstreit von Argumenten verstehen lässt, auf einem zutiefst republikanischen Verständnis des politischen Raumes: Konflikte sollten nicht einfach dem freien Spiel der Kräfte überlassen, sondern zuvor öffentlich ausgehandelt werden, nicht nur mit einem sportlichen Verständnis von Regelkonformität oder Fairness, sondern aus der tiefen Einsicht, dass die Würdigung des besseren Arguments die Chance auch einer besseren Konfliktlösung beinhaltet, von der alle Seiten profitieren.

Eine Politik, in der Gründe und Argumente zählen, ist dem schieren Machtkampf ebenso überlegen, wie ein Journalismus, der diese Gründe und Argumente aufdeckt und rekonstruiert, einer bloß beschreibenden Abbildung solcher Machtkämpfe im öffentlichen Raum.

1 Comment

  1. English version (thx to DeepL):

    The power of the good argument

    Published on 24. June 2019 by Lorenz Lorenz-Meyer

    This article will deal with the power of good arguments in journalism. Arguments mostly come into play in the rational interaction between people when there are disagreements between the actors. But they can also simply deepen the understanding of certain opinions or options for action. As we will see, there are a number of positive results that can be achieved by resorting to arguments in such situations.

    It is not always possible to resolve existing disagreements argumentatively, but in most cases by trying we might learn something that can bring everyone forward. This applies in particular to journalism, which has the task of reconstructing social conflicts as rationally as possible and thus contributing to critical understanding and opinion-forming in the participating publics, as well as – in the best case – to resolving the conflicts.

    At Wikipedia I recently found the following definition: One argument is “a sequence of statements consisting of one or more premises and one conclusion”, and further: “These are presented with the claim that the premises necessarily justify or strongly suggest the conclusion”. This is done “with the aim of finding a decision about the truth of an assertion or the acceptance of a proposal”. (In the meantime, this definition has been revised and is now a little too detailed to take it as a starting point here).

    A “decision on the truth of an assertion or the acceptance of a proposal” – here again there is the distinction between desciptive and normative statements already mentioned in an earlier contribution. Arguments include both categories.

    We may modify the Wikipedia definition quoted above for our purposes as follows: An argument is the compilation of a descriptive or normative claim (conclusion) with a set of descriptive or normative reasons (premises) that either support (in the limiting case: prove) or weaken (in the limiting case: refute) this claim.

    One can criticize an argument in two ways:

    • One denies the truth (in the descriptive case) or validity (in the normative case) of the reasons;
    • The supporting / weakening connection between claim and grounds is denied.

    Let’s start with a simple example that illustrates this. In the US, a proponent and an opponent of Donald Trump’s wall project on the Mexican border discuss with each other. The proponent argues as follows:

    (Conclusion) The wall must be built,
    (premise 1) because the number of Latino immigrants must be limited
    (premise 2) and the wall would massively limit the number of Latino immigrants.

    We see that this argument justifies a normative assertion (“The Wall Must Be Made”), which is the goal of the argument, with another normative assertion (“The Number of Latino Immigrants Must Be Limited”) and a descriptive assertion (“The Wall would massively limit the number of Latino immigrants”). The argument roughly corresponds to what the Aristotelian tradition calls ‘practical syllogism’.

    The opponent of the Wall project would now – see above – have two ways of invalidating this argument:

    1. He could question the truth of at least one of the premises;
    2. He could admit the truth of the premises, but deny that the premises really support the conclusion.

    For the first path, for example, he could point out that most Latino immigrants do not cross the unprotected border into the U.S. illegally, denying the truth of premise (2). For the second way, for example, he could argue that the construction of the wall is associated with so many hidden disadvantages (financial costs, deterioration of relations with the neighboring country, ecological damage, etc.) that they would make up for the ‘advantage’ of massively restricting immigration.

    But it is not always possible to immediately bring ‘better knowledge’ into play, of course, and so it can also be a sensible strategy to follow up with the interlocutor and ask her to explain her premises further, for example by asking for reasons for her reasons: “But why do you believe/find that…”.

    “Why,” could such a question be, “do you think that the number of Latino immigrants should be limited?” Let’s say that our Trump supporter answers: “I’m worried about the violence in our cities, which must end. And the Latinos are responsible for this violence!”

    Now we have made the (normative) premise “The number of Latin immigrants must be limited” the conclusion of another argument, and identified two further premises of the actor:

    1. The violence in the cities must come to an end.
    2. Fewer Latinos would end violence in the cities.

    And here, realistically, there is a chance that the Trump opponent will for the first time be able to partially agree with his adversary: We can assume that he, too, regards violence in American cities as a problem that must be solved. He could now argue as follows: “We are quite close. I agree that we have to solve the problem of violence in the cities. However, I do not believe that Latinos are responsible for this. There are empirical studies that show that urban violence is not primarily ethnic. It would be much better to counter violence with stricter weapons legislation and social measures such as higher minimum wages.” The burden of argumentation between the opponents would now have shifted to defending or weighing descriptive premises.

    Thus it also becomes visible which goals the argumentative discourse can have:

    • It can identify controversial descriptive premises in order to bring them to an objective clarification;
    • It can identify normative and descriptive premises shared by the opponents (e.g. shared values) and thus facilitate the finding of a compromise;
    • It can also identify an underlying dissent in basic preferences or values that is not visible at first glance and that can either be eliminated or not eliminated. More on this later.

    What is the function of arguments in journalism? On the one hand, the so-called ‘opinion-based’ formats, about which I had already thought in another article, are ideally argumentatively structured. This means that in a commentary or editorial the author should not simply give away what she thinks is good and, if necessary, distance herself from other positions. It is also important to substantiate the positions represented and thus to position oneself in the argumentative space in comparison to other actors. (However, we read and studied many commentaries on German journalistic media together with the students during our text training, and we were surprised about how often this elementary rule is not followed.)

    But the consideration of arguments also plays an important role in analyses. Politics is actually always based on conflicts of interest. If we have identified the various actors or groups of actors with their interests and positions in our analyses, it is by no means always clear at first glance why they represent their positions. Let us take the example of Brexit. Both the Conservatives and the Labour Leadership in Great Britain have in recent weeks been advocating anti-European positions and working towards a Brexit in one way or another. It is obvious that they had very different reasons for this. The dissent that will interest us here is not at the level of the positions, but at the level of the underlying justifications.

    What is more, the actual reasons do not always coincide with the external reasons. A thorough journalistic examination here must bring all means, including investigative research, into play in order to identify the actually action-relevant reasons. This is not only necessary for an understanding of the political situation, it also points out potential solutions.

    Of course, it is not always possible to resolve conflicts in an argumentative way. In many cases, the supposed dissent in the matter is based simply on conflicting claims to power. Or it can be traced back to fundamental differences in values. Thus rival liberal, conservative or social political positions can in many cases be traced back to a different weighting of the values freedom, security/stability and justice/equality. (Perhaps this statement is itself misleading and ideological. At least recently, some conservative parties tend to give the impression that they are the hazard-riders of politics, not the advocates of stability and security.)

    In any case, the assumption that politics can be understood at least in part as a competition of arguments is based on a deeply republican understanding of the political space: Conflicts should not simply be left to the free play of forces, but should be negotiated publicly beforehand, not only with a sportive understanding of rule conformity or fairness, but from the deep insight that the appreciation of the better argument also includes the chance of a better conflict resolution, from which all sides benefit.

    A policy in which reasons and arguments count is just as superior to the sheer power struggle as a journalism that uncovers and reconstructs these reasons and arguments compared to a merely descriptive depiction of such power struggles in public space.

    Translated with http://www.DeepL.com/Translator

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