Analyse als Werkzeug journalistischer Arbeit

Die Welt, wie sie uns begegnet, ist groß, bunt und chaotisch. Eine Aufgabe des Journalismus, so heißt es, sei die Komplexitätsreduktion. Im vorigen Beitrag haben wir eine Form solcher Komplexitätsreduktion diskutiert: das Storytelling. Das Erzählen von Geschichten zur Veranschaulichung größerer Zusammenhänge, so haben wir dort gesehen, ist nicht ganz frei von Risiken. 

Der US-amerikanische Ökonom Tyler Cowen hat in einem TED-Talk noch auf eine weitere Schwäche des Storytellings hingewiesen: Seiner Meinung machen es sich die meisten Storys zu einfach, sie treiben das Geschäft der Komplexitätsreduktion zu weit. Die einfachen Heldenreisen, Bekehrungsgeschichten etc. mit ihren kathartischen Auflösungen werden als Deutungsraster unserer komplexen Wirklichkeit nicht gerecht.

Kommen wir (auch) deshalb zu einer anderen Erkenntnistechnik, die sich enger an das Gefüge der Welt anlehnt und einen zugleich erwachseneren aber leider auch trockeneren Zugang zu komplexen Gemengelagen ermöglicht: zur Analyse.

Eine Analyse, so sagt uns Wikipedia “ist eine systematische Untersuchung, bei der das untersuchte Objekt oder Subjekt in Bestandteile (Elemente) zerlegt und [diese] auf Grundlage von Kriterien erfasst werden. Anschließend werden [sie] geordnet, untersucht und ausgewertet. Insbesondere betrachtet man Beziehungen und Wirkungen (oft: Wechselwirkungen) zwischen den Elementen.”

Es ist sicher sinnvoll, den Begriff der Analyse selbst noch ein bisschen zu analysieren und ihn weiter zu differenzieren nach seinen Anwendungsfeldern: Man kann ihn beispielsweise – wie wir es gerade tun – anwenden auf Begriffe. Begriffsanalyse ist ein Kernbereich der Philosophie, zum Beispiel wenn Plato seinen Sokrates mit einem Schüler den Begriff des Wissens diskutieren lässt. Im Idealfall besteht das Resultat in einer Art Definition, in der Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen zur Anwendung des Begriffs, und der Prozess der Klärung dieser Bedingungen trägt zu unserem Verständnis des Begriffs bei.

Ein anderer Anwendungsbereich für Analysen sind komplexe Phänomene in der Welt. Hier geht es – anders als bei der Begriffsanalyse – nicht um abstrakte oder logische Zusammenhänge, sondern um Aspekte konkreter, vorgefundener Wirklichkeit, beispielsweise komplexe gesellschaftliche Strukturen und Prozesse.

Nehmen wir zum Beispiel das vielfach diskutierte, aber weitgehend unzureichend verstandene Thema Digitalisierung. Was genau ist Digitalisierung? Beginnen wir mit einer Begriffsanalyse. Was wir eben – ein bisschen selbstreferentiell – auch mit dem Begriff der Analyse selbst gemacht haben, können wir auch hier tun: nach möglichen verschiedenen Anwendungsbereichen des zu untersuchenden Begriffs fragen. Was sind typische Anwendungsfälle, was würden wir als Digitalisierung bezeichnen? 

Es fällt auf, dass wir es auch hier mit (mindestens) zwei sehr unterschiedliche Anwendungsfeldern zu tun haben:

  1. Da ist zum einen Digitalisierung als simpler Transfer ursprünglich analog verfasster Medien in ein digitales Format. Zum Beispiel die Übertragung alter VHS-Videokassetten in binäre Videoformate, die Digitalisierung alter Fotos und Schallplatten, oder die Anstrengungen von Google, Bücher zu scannen und in digitalen Dateiformaten zu archivieren und vorzuhalten. Auch der Transfer von papiernen Akten in digitale Datensätze gehört in diese Kategorie.
  2. An diese Verwendung anknüpfend, aber weit darüber hinausgehend, gibt es eine abgeleitete Anwendung des Digitalisierungsbegriffs auf umfassende technologische und gesellschaftliche Transformationsprozesse, die durch die breite Anwendung digitaler Informationstechnologien möglich geworden sind: Grundlegende Änderungen in der Kommunikation, in der Bildung, in der Verwaltung, in der industriellen Produktion etc.

Interessanterweise wird hier im angelsächsischen Sprachraum offenbar deutlicher unterschieden. Wo die deutsche Wikipedia nur ein Stichwort anbietet, das beide Verwendungen des Begriffs umfasst (Digitalisierung), hat die englischsprachige derer zwei (Digitization und Digital Transformation).

Wenn wir nun von der (eher linguistischen oder philosophischen) Begriffsanalyse zur Analyse der von den unterschiedlichen Facetten des Begriffs Digitalisierung erfassten Phänomene selbst kommen, so wird deutlich, dass wir es entsprechend der unterschiedlichen Anwendungsfelder auch mit unterschiedlichen zuständigen Wissenschaftsdisziplinen zu tun haben: Für den Aspekt der Digitalisierung von Einzelmedien sind eher Elektroniker oder Informatiker zuständig, während für die Digitale Transformation nicht nur die Ingenieursdisziplinen, sondern auch Bereiche der Soziologie (Techniksoziologie, Technikfolgenabschätzung, Soziologie der Arbeitswelt etc.), Kommunikationsforschung, Managementtheorie, Politik etc zuständig sind. Eine umfassende Analyse der digitalen Transformation unserer Gesellschaft erweist sich somit als ein multi- oder interdisziplinäres Unterfangen größeren Ausmaßes. 

Treten wir nun einen Schritt zurück und verlassen das Beispiel Digitalisierung. Worin bestehen – allgemein gesprochen – Analysen eines komplexen und prima facie chaotischen Phänomens? Ich würde insgesamt drei Schritte unterscheiden:

  1. Der erste Schritt besteht – wie wir gerade gesehen haben – in einer Begriffsklärung. Die für das Phänomen einschlägigen Begriffe sollten betrachtet und auf ihre potentiellen Anwendungsfelder und tatsächlichen Anwendungsbedingungen untersucht werden. Nicht immer können wir hoffen, zu einer strengen Definition unter Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen zu gelangen (X ist ein F, genau dann wenn [erstens], [zweitens], [drittens],…). Aber auf dem Weg dahin gelangen wir zu einem besseren Verständnis unseres Begriffsrepertoires und vermeiden damit Konfusionen, die z.B. durch Mehrdeutigkeiten entstehen können.
  2. Der zweite Schritt besteht in der Identifikation von für das Phänomen relevanten Bestandteilen oder Akteuren, gewissermaßen der Komponenten, aus denen sich unsere komplexe Gemengelage zusammensetzt. Im Falle der Digitalen Transformation wären dies zum Beispiel sowohl Akteursgruppen (Wissenschaft, Industrie, Politik, Zivilgesellschaft,…) als auch einzelne Technologien und ihre Ausprägungen (Algorithmen, Mobile Endgeräte, Sensoren, Big Data, Künstliche Intelligenz, Internet of Things, …).
  3. Im dritten Schritt schließlich untersuchen wir Eigenschaften, Beziehungen und Zusammenhänge dieser Komponenten in statischer und dynamischer Betrachtung. Wir stellen im Zusammenhang mit der Digitalen Transformation etwa fest, dass mobile Endgeräte zunehmend zu multimodalen Sensoren werden, die im Sinne von Big Data in der Lage sind, massenhaft Gesundheitsdaten ihrer Nutzer zu erfassen und zusammenzuführen, was wiederum mit Hilfe von Algorithmen und Techniken der künstlichen Intelligenz massive Auswirkungen auf das Gesundheitssystem einer Gesellschaft haben kann und wird.

Analysen liefern uns, so betrachtet, Modelle der Wirklichkeit, die nach Möglichkeit wohlgeordnet und nachvollziehbar sind. Sie sind gleichzeitig eine sinnvolle Form der Komplexitätsreduktion.  Sie reduzieren Komplexität, indem sie bestimmte, irrelevante Aspekte ausklammern, die unserem Verständnis nicht dienlich wären oder sogar im Wege stehen könnten. Sie können uns aber auch Wissenslücken aufzeigen, die wir durch weitere Recherche oder Forschung beheben sollten.

Welchen Gebrauch können wir im Journalismus von diesem Werkzeug machen? Als eigenständige journalistische Form sind Analysen meist zu umfangreich und trocken, aber als Leitprinzip für die Recherche und Erschließung eines Themenfeldes taugen sie ebenso wie als Strukturierungshilfe für ein strategisches Themenmanagement. Insofern sollten sich alle angehenden und praktizierenden Journalist*innen ein solides analytisches Instrumentarium zulegen.

2 Comments

  1. English version (thx to DeepL):

    MIND WORKS/SPORTS ET DIVERTISSEMENTS

    Analysis as a tool for journalistic work

    Published on 14 June 2019 by Lorenz Lorenz-Meyer

    The world as we encounter it is big, colorful and chaotic. One of the tasks of journalism, it is said, is to reduce complexity. In the previous article we have discussed one form of such complexity reduction: storytelling. However, the telling of stories to illustrate larger contexts, as we have seen there, is not free of risks.

    The American economist Tyler Cowen pointed out another weakness of storytelling in a TED talk: In his opinion, most stories are too simple, they push the business of complexity reduction too far. The simple hero journeys, conversion stories etc. with their cathartic resolutions do not do justice to our complex reality.

    Let us (also) therefore come to another cognitive technique that is more closely based on the structure of the world and at the same time enables a more adult but unfortunately also drier access to complex constellations: analysis.

    An analysis, (german) Wikipedia tells us, “is a systematic investigation in which the object or subject studied is broken down into components (elements) and [these] recorded on the basis of criteria. Then [they] are ordered, examined and evaluated. In particular, one considers relationships and effects (often: interactions) between the elements”.

    It certainly makes sense to analyse the concept of analysis itself a little and to differentiate it further according to its fields of application: One can apply it, for example, to concepts. Conceptual analysis is a core area of philosophy, for example when Plato lets his Socrates discuss the concept of knowledge with a student. Ideally, the result will be a kind of definition, a statement of necessary and sufficient conditions for the use of the term, and the process of clarifying these conditions will contribute to our understanding of the term.

    Another area of application for analyses are complex phenomena in the world. In contrast to conceptual analysis, these are not abstract or logical contexts, but aspects of concrete reality surrounding us, for example complex social structures and processes.

    Take, for example, the topic of digitisation, which is often discussed but largely insufficiently understood. What exactly is digitisation? Let’s start with a conceptual analysis. What we have just done – a little self-referentially – with the concept of analysis itself, we can do here as well: ask about possible different areas of application of the concept to be investigated. What are typical applications, what would we call digitisation?

    Here, too, we are dealing with (at least) two very different fields of application:

    1. On the one hand there is digitisation as a simple transfer of originally analogue media into a digital format. For example, the transfer of old VHS video cassettes into binary video formats, the digitisation of old photos and records, or Google’s efforts to scan books and archive and store them in digital file formats. The transfer of paper files into digital data records also belongs in this category.

    2. Starting from this use, but going far beyond it, there is a derived application of the concept of digitisation to comprehensive technological and social transformation processes that have become possible through the broad application of digital information technologies: Fundamental changes in communication, education, administration, industrial production, etc.

    Interestingly, a clearer distinction is obviously made here in the Anglo-Saxon linguistic area. Whereas the German Wikipedia offers only one keyword that encompasses both uses of the term (Digitalisierung), the English Wikipedia has two (digitization and digital transformation).

    If we now move on from the (more linguistic or philosophical) term analysis to the analysis of the phenomena covered by the different facets of the term digitisation itself, it becomes clear that we are dealing with different responsible scientific disciplines according to the different fields of application: Electronic engineers or computer scientists are more likely to be responsible for the digitization of individual media, while not only the engineering disciplines are responsible for digital transformation, but also areas of sociology (sociology of technology, technology assessment, sociology of the working world, etc.), communication research, management theory, politics, etc. A comprehensive analysis of the digital transformation of our society thus proves to be a multi- or interdisciplinary undertaking on a larger scale.

    Let us now take a step back and leave the example of digitisation. What are – generally speaking – analyses of a complex and prima facie chaotic phenomenon? I would distinguish a total of three steps:

    1. The first step, as we have just seen, is to clarify the concept. The terms relevant to the phenomenon should be considered and examined for their potential fields of application and actual conditions of use. We cannot always hope to arrive at a strict definition with necessary and sufficient conditions (X is an F, if and only if [first], [second], [third],…). But on the way there we should come to a better understanding of our repertoire of terms and thus avoid confusion, which can arise e.g. from ambiguities.

    2. The second step is the identification of parts or actors relevant to the phenomenon, in a sense the components that make up our complex mixture. In the case of digital transformation, these would be, for example, groups of actors (science, industry, politics, civil society, …) as well as individual technologies and their manifestations (algorithms, mobile terminals, sensors, big data, artificial intelligence, Internet of Things, …).

    3. Finally, in the third step, we examine the properties, relationships and interrelationships of these components in static and dynamic terms. In the context of digital transformation, for example, we find that mobile gadgets have increasingly become multimodal sensors that, in the sense of big data, are able to capture and combine mass health data of their users, which in turn, with the help of algorithms and techniques of artificial intelligence, can and will have massive effects on the health system of a society.

    Analyses provide us with models of reality that are well-ordered and comprehensible wherever possible. At the same time, they are a meaningful form of complexity reduction. They reduce complexity by excluding certain irrelevant aspects that would not serve our understanding or could even stand in its way. But they can also point out gaps in our knowledge, which we should remedy by further research.

    What use can we make of this tool in journalism? As an independent journalistic form, analyses are usually too comprehensive and dry, but as a guiding principle for research and development of a topical area they are useful, and also as a structuring aid for strategic topic management. In this respect, all prospective and practising journalists should acquire a solid set of analytical skills.

    Translated with http://www.DeepL.com/Translator

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