Sina Weibo: Chinas re-inkarnierte digitale Öffentlichkeit

Ende Februar 2012 konnten chinesische Internetnutzer plötzlich für kurze Zeit die eigentlich gesperrte Biographie-Seite des ehemaligen Generalsekretärs der KP Chinas, Zhao Ziyang, in einem Wiki des Suchmaschinenanbieters Baidu aufrufen. Zhao gilt als Unterstützer der Studentenbewegung auf dem Platz des himmlischen Friedens, er verlor nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands am 4. Juni 1989 alle seine Ämter, wurde festgesetzt und starb 2005 im Pekinger Hausarrest.

Obwohl die Seite nur für etwa einen Tag entsperrt war, wurde sie angeblich von über zwei Millionen Menschen aufgerufen. Lang Yaoguan, leitender Redakteur einer Hangzhouer Wirtschaftszeitschrift schrieb dazu wenig später im Microbloggingdienst Sina Weibo:

Dieser traurige alte Mann taucht eines Nachts plötzlich am Rande unseres Gesichtsfelds auf. Mehrere Millionen Suchanfragen können als mehrere Millionen Würdigungen verstanden werden – spät, aber nun sind sie da. In einem solchen Moment fühle ich, wie cool es ist, Chinese zu sein. Chinesen vergessen nichts.

Lang Yaoguan hat auf Sina Weibo knapp über 70.000 Follower, die seine Beiträge regelmäßig lesen. Sein Eintrag, dem er ein Bild des verstorbenen Generalsekretärs angehängt hatte, wurde wenig später von Sina zensiert und gelöscht.

Das Tool der neuen Mittelschicht

Das chinesische Internet ist voller Anekdoten wie dieser. Geschichten, die einen staunen lassen über die Größe dieses sozialen Raumes, aber auch über die Leidenschaft, mit der er genutzt und gelebt wird. Sina Weibo, der erfolgreichste chinesische Microblogging-Dienst, ist zugleich die wichtigste aktuelle Ausprägung dieses öffentlichen digitalen Diskursraumes und eine seiner größten Erfolgsgeschichten. Mit über 300 Millionen Accounts hat der Dienst mittlerweile das international aufgestellte Vorbild Twitter überholt. Wann immer irgendjemand etwas in China mitzuteilen, zu kommentieren oder zu diskutieren hat, wird er dies auf Sina Weibo tun – via Smartphone, Tablet oder Computer.

Als etwa im Juli 2011 in Wenzhou in der Provinz Zhejiang zwei High-Speed-Eisenbahnzüge kollidierten, kamen nicht nur die ersten Berichte, Fotos und Videos von der Unglücksstelle über Weibo, auch die anschließende Diskussion über Pfusch am Eisenbahnbau und die Verantwortlichkeit offizieller Stellen – bei der selbst offizielle Medien eine ungewöhnlich kritische Haltung gegenüber dem Eisenbahnministerium einnahmen – wurde dort initiiert und vorangetrieben. Für die Behörden ein schmerzhafter Beweis, dass die neue chinesische Mittelschicht hier ein mächtiges Kommunikationsmittel an die Hand bekommen hat und es auch zu nutzen versteht.

Wie Twitter kennt auch Sina Weibo eine Beschränkung auf 140 Zeichen pro Beitrag. Wer aber mehr zu sagen hat, kann längere Texte in ein Foto umwandeln und seinem Beitrag anhängen. Überhaupt ist es leichter als bei Twitter, Fotos oder Videos zu integrieren, und wenn man einen Beitrag weiterleitet, kann man ihn noch einmal in voller Länge kommentieren.

Rapider Aufstieg

Zur Begeisterung der Chinesen für Sina Weibo hat zweierlei beigetragen: Zum einen ist der Dienst ungeheuer elegant und einfach zu nutzen. Zum anderen hatte der Betreiber Sina[1] von Anfang an sehr geschickt dafür gesorgt, dass viele Prominente und Meinungsführer dabei waren. In den ersten Monaten nach der Gründung im Jahre 2009 mussten mehrere hundert Sina-Redakteure jede Woche mindestens einen Prominenten und zwei Journalisten für das «Sina Certified» Programm (Klarnamen und garantierte Identität) rekrutieren und diese zu regelmäßigem Schreiben anhalten.

Um die Erfolgsgeschichte von Sina Weibo einordnen zu können, muss man sie vor ihrem weiteren Hintergrund sehen. Im November 2011 nutzten laut Statistiken des semi-offiziellen China Internet Network Information Center (CNNIC) 505 Millionen Menschen in China das Internet. Damit stellt China die weltweit größte Internet-Nutzerschaft, wobei es mit einem Nutzungsanteil von gut 38 Prozent an der Gesamtbevölkerung immer noch weit hinter entwickelten Industrienationen wie Deutschland mit fast zwei Dritteln Nutzungsanteil zurückliegt.

Für junge Chinesen ist das Internet schon seit Jahren die wichtigste Nachrichtenquelle – neben Sina sind das vor allem Sohu, Netease und QQ und deren mobile Dienste. Gleichzeitig steht in China die soziale Nutzung des Netzes im Vordergrund. Schon vor den westlichen Moden von Web 2.0 und Social Software nutzten Millionen Chinesen Diskussionforen im Web zum Austausch über Karriere, Politik, Literatur und Alltagsfragen, der erfolgreiche Instant Messaging-Dienst QQ verzeichnete schnell mehr registrierte Accounts als offiziell gezählte chinesische Internetnutzer.

So sind auch die großen Webportale nicht nur Nachrichtendrehscheiben für News von anderen Anbietern in Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Finanzen, Militär, Sport oder Entertainment. Sie treten auch als Hoster von Foren und Weblogs zu einer mindestens ebenso breiten Themenpalette auf. Die besten Blogs werden vom Betreiber redaktionell hervorgehoben, es gibt Wettbewerbe, Treffen und aufwändig gestaltete große Themenportale, deren Inhalte allein aus der Community kommen. Insbesondere Sina hat hier traditionell ein goldenes Händchen bewiesen. Sinas Blogabteilung bemühte sich frühzeitig und hartnäckig um die Rekrutierung von Prominenten und Multiplikatoren – eine Strategie, die später bei Weibo mit großem Erfolg fortgesetzt wurde.

Blogs und Foren werden abgelöst

Bis zum Start der Microblogging-Dienste in den Jahren 2009 und 2010 waren Webforen und Blogs die wichtigste Plattform für den öffentlichen Diskurs im chinesischen Internet, und oftmals der Ort hitziger Debatten. So gibt es Foren wie Qiangguo, auf denen die sogenannten «Linken», das heißt chinesische Nationalisten und Anhänger eines eher traditionell geprägten kommunistischen Weges, vorherrschen, und andere wie Tianya, auf denen die «Rechten» dominieren, die sich für Liberalismus und Bürgerrechte sowie für eine Orientierung an westlichen Werten einsetzen. Und viele Orte, wo diese beiden Fraktionen aufeinanderprallen.

Keine Journalistin, die etwas auf sich hält, betreibt nicht mindestens ein Weblog, in dem sie einfach mal niederschreibt, was sie offiziell nicht unterbringen kann. Oft sind es mehrere Blogs, man streut oder kopiert seine Beiträge – um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen oder um die allgegenwärtigen Zensoren zu umgehen. Denn egal ob Weibo, Blog oder Forum: das Geschäft der chinesischen Online-Autoren und -Betreiber findet unter dem strengen Blick von Partei und Behörden statt. Der chinesische Medienmarkt ist umfassend reguliert, wer beispielsweise eine Zeitung gründen will, benötigt dafür eine Lizenz aus einem zahlenmäßig begrenzten Pool. Eine solche Lizenz wiederum bekommt nur, wer über die Rückendeckung eines bestehenden offiziellen Mediums verfügt.

Ausdifferenzierte Kontrolle

Für die Online-Branche heißt dies unter anderem, dass Anbieter in weiten Teilen des journalistischen Themenspektrums keine eigene Berichterstattung anbieten dürfen, nur in harmlosen Feldern wie Finanzen, Entertainment oder Sport werden hier Ausnahmen gemacht. Alle weiteren Inhalte mussten und müssen von bestehenden Anbietern traditioneller Medien übernommen – oder eben aus der Community generiert werden.

Erstaunlicherweise akzeptieren die Behörden diesen Deal. Über die Jahre hat sich ein weitverzweigtes und komplexes, aber hocheffizientes Überwachungs- und Kontrollsystem entwickelt, durch das die Online-Community beobachtet und gesteuert wird. Im Westen bekannt ist vor allem die Große Firewall, ein ausgeklügeltes System von Filtern, mit dem Webseiten und Dienste aus dem Ausland gesperrt werden können. Facebook und Twitter gehören zu den prominenteren Opfern, aber das System richtet sich auch und vor allem gegen chinesischsprachige Angebote von Oppositionsgruppen aus dem Ausland. Ausländische Beobachter sind oft überrascht, wie viele kritische Inhalte in China problemlos erreichbar sind – wenn sie diese auf englisch oder in einer anderen westlichen Sprache aufrufen.

Betreiberhaftung und Briefings

Aber nicht nur an den virtuellen Grenzen, auch im Inland wird zensiert, auf nationaler, provinzieller oder kommunaler Ebene. Eine Vielzahl von Zensurbehörden mit tausenden von Mitarbeitern beobachtet die Online-Medien und versorgt sie regelmäßig mit Direktiven zur täglichen Berichterstattung. Der Informationsdienst China Digital Times veröffentlicht regelmäßig solche aus den Redaktionsstuben herausgeschmuggelte Bulletins. Hier eine Kostprobe der Zentralen Propagandaabteilung vom 6. März 2012:

Bitte die folgenden Themen nicht hypen: der Chen Guangcheng-Vorfall, negative Schlagzeilen über die Dürre in Yunnan, öffentliche Ausgaben für Maotai-Schnaps, Gesetzgebung zum Rauchverbot, Unruhen im Zusammenhang mit dem Lei-Feng-Microblog, Mediengesetzgebung oder verschwundene Personen aus Hoh Xil. Untersagen Sie Beschreibungen der Zwei Sitzungen [Volkskongress und Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes, LLM] als Entertainment oder Verspottungen derselben. Machen Sie guten Gebrauch von der Arbeit der Xinhua-Nachrichtenagentur um ihren Artikel über Amerikas Menschenrechtsbilanz weiterzuverbreiten.

Das Kernprinzip, das sich die Behörden zunutze machen, heißt Betreiberhaftung. Die Anbieter von Online-Diensten werden für Regelverstöße, die auf ihren Seiten geschehen, zur Verantwortung gezogen, das Sanktionsspektrum reicht von Einbestellungen der Chefredakteure oder Herausgeber bis hin zu empfindlichen Geldbußen oder Lizenzentzug.

Die so entstehende Schere im Kopf kann sich – je nach lokaler Ausprägung und je nach Ausmaß des vorauseilenden Gehorsams – sehr unterschiedlich auswirken. Eine Studie bei verschiedenen Bloghostern, die die US-amerikanische Medienwissenschaftlerin Rebecca MacKinnon im Jahr 2009 veröffentlichte, zeigt eine immense Bandbreite von Zensur-Stilen. So gab es Hoster, die nur ein bis zwei Prozent der untergeschobenen Blogbeiträge zu «heiklen» Themen löschten, während ein anderer in vergleichbarer Situation bei mehr als der Hälfte der Beiträge den Schwarzstift anlegte.

Überwachung bei sina Weibo

Was für Blogs gilt, gilt mutatis mutandis auch für Microblogs wie bei Sina Weibo. In einem erstaunlich offenen Artikel der Hongkonger Zeitschrift Phoenix Weekly berichtet unter anderem Weibo-Chefredakteur Chen Tong über die Bemühungen der Sina-Redaktion, den behördlichen Vorgaben zu entsprechen, ohne die Nutzer zu verprellen. Man setze eine Mischung aus künstlicher Intelligenz und menschlicher Arbeitskraft ein, um problematische Inhalte schnell zu identifizieren. Neben automatisierten Filtern gibt es eine 24-stündig besetzte Task Force, die das Geschehen beobachtet und auf Nutzerhinweise reagiert. Offiziell ist hier von 100 Köpfen die Rede, die bei größeren Ereignissen auf bis zu 600 verstärkt werden können. Inoffiziell wird ein sehr viel größerer Headcount vermutet.

Zum besseren Community-Management werden die Nutzer bei Sina intern in verschiedene Kategorien eingeteilt: Die schon erwähnten Kategorien «links und «rechts» spielen dabei eine Rolle, aber auch Kategorisierungen wie «Anfänger», «normaler Nutzer», «heikler Nutzer», «grüner Nutzer», «gefährlicher Nutzer», «eingefrorener Nutzer» oder «gekillter Nutzer». Wer es bis zur vorletzten oder gar letzten Kategorie gebracht hat, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich unter neuem Namen anzumelden. Auf diese Weise entsteht eine Subkultur, für die es sogar einen eigenen Namen gibt: die «Re-Inkarnationspartei». Der Artikel in Phoenix Weekly berichtet von einem Gründungsmitglied dieser Partei, einem Hochschuldozenten namens Xiao Han, der sich angeblich ungefähr 100 mal re-inkarniert hat, bevor er das Spiel endgültig aufgab und alle seine Spuren auf Sina Weibo löschte. Es soll ihn acht Stunden und 18.000 Mausklicks gekostet haben.

Testbetrieb und Klarnamenpflicht

Von offizieller Seite wird das subversive Potential von Weibo natürlich kritisch beäugt, auch wenn sich Sina um eine positivere Einstellung der Behörden bemüht und erfolgreich zur Teilnahme einlädt: Bis zum Ende des Jahres 2011 waren immerhin 20.000 Regierungsstellen mit eigenen Accounts bei Weibo vertreten. Sina-Chef Charles Chao steigt gelegentlich auch selbst in den Ring, um Regierungsvertreter im Gebrauch von Sina Weibo zu schulen.

Dennoch ist das Schicksal von Sina Weibo offen, das Damokles-Schwert eines jederzeit zu beendenden Testbetriebs schwebt weiterhin über den Häuptern aller Betreiber von Microblogging-Diensten in China. Vor allem die kritische Sub-Kultur der «Re-Inkarnierer» ist den Zensur-Hardlinern ein Dorn im Auge. Vorerst ist es ihnen Mitte Dezember 2011 gelungen, eine Klarnamen-Pflicht für alle Weibo-Teilnehmer zu beschließen (wie sie für die prominenten Teilnehmer schon lange besteht) – vorgeblich, um der «Verbreitung von Gerüchten» via Weibo ein Ende zu bereiten. Es ist allerdings nicht nur unklar, ob eine solche Klarnamenpflicht wirklich Auswirkungen auf die Weibo-Kultur haben würde, es ist auch fraglich, ob sie überhaupt durchzusetzen ist. Ein ähnlicher Vorstoß bei Mobiltelefonen war vor ein paar Monaten gescheitert. Die Deadline läuft Mitte März aus, Sina meldet wenige Tage vor Abschluss der Frist, dass bislang ungefähr 60 Prozent dem Aufruf, ihren Klarnamen anzugeben, Folge geleistet haben.

Wenn es nicht um die große, programmatische Linie geht, hat man sich sowieso längst verständigt. Ein nicht namentlich genannter Redakteur beschreibt in dem Phoenix-Artikel ein erstaunlich friedfertiges, implizites Übereinkommen zwischen Nutzern und Redaktion, das man zugleich auch als operatives Prinzip in weiten Teilen des chinesischen Internets verstehen könnte: «Wenn ihr meint, ihr müsst etwas löschen, dann löscht es. Aber wenn ihr es etwas später löscht, ist das gut.

Dem westlichen Beobachter mag das chinesische Internet manchmal erscheinen wie eine der Trickgrafiken des holländischen Künstlers MC Escher. Je nachdem, wie er schaut, sieht er eine Treppe, die entweder unaufhörlich bergauf oder unaufhörlich bergab geht. Wer sich jedoch vorschneller und eindeutiger Interpretationen enthält, erlebt ein vielschichtiges, im Ausgang völlig offenes gesellschaftliches Drama, gegen das unser eigener Umgang sowohl mit dem Netz als auch mit unseren bürgerlichen Freiheiten zaghaft und naiv erscheinen kann.

Update (8. Mai 2012): Wie es aussieht, ist die Registrierungspflicht bei Sina Weibo auch zu Ablauf der vorgesehenen Frist nicht wirklich implementiert worden. In einem öffentlichen Statement an seine Investoren vom April 2012 hat Sina zugegeben, dass es nicht gelungen sei, die am 16. Dezember des Vorjahres erlassenen Vorschriften vollständig umzusetzen. Man setze sich damit der Gefahr empfindlicher Strafen aus, heißt es in der Mitteilung. Eine vollständige Überprüfung aller Nutzeridentitäten werde aber sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, wenn man die Qualität des Dienstes nicht beeinträchtigen wolle. Allzu ernst kann es Sina mit dieser Absicht nicht sein. Ein ad-hoc Versuch heute ergab, dass es weiterhin möglich ist, sich anonym für einen Weibo-Account anzumelden. Man muss dazu nur eine Mobiltelefonnummer angeben – und auch SIM-Karten gibt es in China weiterhin anonym… (Für weitere Hintergründe empfehle ich ein Podcast-Interview vom 1. Mai 2012 mit dem Südafrikaner Jeremy Goldkorn, der in Beijing das Medienblog Danwei.com betreibt.)

Der Text ist Mitte März 2012 entstanden und erschien zuerst im Reader “Öffentlichkeit im Wandel” der Heinrich Böll Stiftung (CC BY-SA).


  1. Sina (chinesisch: Xinlang) ist ein 1997 gegründetes chinesisches Medienunternehmen mit einem Jahresumsatz von 483 Mio. US-Dollar (2011). Es unterhält eines der vier großen Webportale im chinesischsprachigen Internet (neben QQ/Tencent, Sohu und Netease). Das an der US-Technologiebörse NASDAQ notierte Unternehmen betreibt über das Geschäft mit News und Inhalten hinaus auch eine Mobilsparte, Community-Dienste, Such- und Unternehmensdienstleistungen sowie E-Commerce. ↩︎