Herausforderungen der Qualitätsbewertung

Für den von Frauke Gerlach herausgegebenen Sammelband “Medienqualität” (Bielefeld 2020, transcript Verlag) habe ich einen Beitrag über die Arbeit von Nominierungskommission und Jury des Grimme Online Award geschrieben:

Als die Jury des Grimme Online Award im Jahr 2011 das Guttenplag-Wiki mit einem Preis in der Kategorie Spezial auszeichnen wollte, stellte sich die Frage, wen man denn als Preisträger zur Verleihung einladen solle. Tausende Menschen hatten in dem kollaborativen Projekt dazu beigetragen, den damaligen deutschen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg des vielfachen Plagiats in seiner Dissertation zu überführen. Die Jury war sich darin einig, dass auszeichnungswürdig hier nicht allein die Initiative jenes Aktivisten war, der das Wiki eingerichtet und ins Netz gestellt hatte, sondern vor allem die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten. Ihre hartnäckige und kreative Suche nach den in der Dissertation nicht ausgewiesenen Quellen, die Koordination ihrer Anstrengungen im virtuosen Gebrauch einer online bereitgestellten Publikationsplattform und schließlich das beeindruckende Resultat – erst in der Gesamtschau ergab sich die preiswürdige Leistung.

Zur Preisverleihung eingeladen wurde dann schließlich Tim Bartel, ein Vertreter der Plattform Wikia, auf der die Plagiate dokumentiert wurden. Er brachte eine mehrere 100 Seiten lange Namensliste der nach seiner Auskunft über 20.000 Personen mit, die an dem Projekt mitgewirkt hatten, und stellte diese somit alle symbolisch mit auf die Bühne.

Nun ist die Kategorie Spezial, wie der Name schon andeutet, immer ein Sonderfall, ein Jury-Joker, der vom Grimme-Institut eigens dazu eingerichtet wurde, Werke oder Leistungen auszuzeichnen, die nicht in das Raster der sonst angebotenen Rubrizierung fallen. Aber das Problem weist über solche Sonderfälle hinaus und erweist sich als strukturell: Wer Qualität im Internet auszeichnen will, muss ständig damit rechnen, dass vertraute Begrifflichkeiten und Maßstäbe plötzlich überholt sind, dass neue Phänomene auftauchen, die zur fortwährenden Überprüfung unserer Begriffe und Maßstäbe zwingen – Phänomene, bei denen selbst grundsätzliche Kategorien wie Autorenschaft und Werkidentität ihre Konturen zu verlieren scheinen.

Qualität

Über publizistische Qualität wurde schon immer diskutiert, nicht nur im Zusammenhang mit der Vergabe von Preisen, die naturgemäß auf nachvollziehbare Maßstäbe für das jeweils gute Werk, die gute Leistung angewiesen sind. Wir alle wenden diesen Qualitätsbegriff ständig an, wenn wir von einem ›großartigen‹ Film, einer ›hochwertigen‹ Zeitung oder einem ›hervorragenden‹ Buch sprechen, und verteidigen unser Qualitätsurteil im Konfliktfall, indem wir unsere Bewertung unter Angabe möglichst legitimer Maßstäbe zu begründen suchen.

Im Journalismus gibt es den Begriff des Qualitätsjournalismus, der für gewöhnlich Produkte für gebildetere Zielgruppen auszeichnet. Aber Experten wenden ein, dass qualitativ hochwertiger Journalismus nicht auf ein bestimmtes Publikum beschränkt sein kann. Sie sehen journalistische Qualität als ein komplexes, multidimensionales Konstrukt, das von vielerlei Rahmenbedingungen (wie etwa der Zielgruppe) abhängig ist und darüber hinaus einem ständigen Wandel unterliegt.

Im weiteren Feld der Publizistik, das neben der journalistischen Information auch andere, zum Beispiel unterhaltende Formate umfasst, wird die Lage noch unübersichtlicher. In der Fachdiskussion ist hier der Diskurs rund um die öffentlich-rechtlichen Medien einschlägig, die sich unter anderem durch einen besonderen Qualitätsanspruch legitimieren. Wenn gemeinwohlorientierte, öffentliche Medien im Grundsatz die gesamte Bevölkerung ansprechen und erreichen können sollen, so ist dies wahrscheinlich nicht mit einem für alle gleichermaßen anwendbaren, über die Zeit stabilen Instrumentarium von Qualitätsmaßstäben zu erreichen. Ein Programm, das qualitativ nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner optimiert ist, wird vermutlich kaum jemanden interessieren.

Das Lamento über die Schwierigkeiten einer angemessenen und zugleich allgemein nachvollziehbaren Qualitätsbewertung ist also nichts Neues, und nicht nur die Nominierungskommission und die Jury des Grimme Online Award dürften mit Recht in ihren Beziehungsstatus zum Qualitätsbegriff schreiben: »It’s complicated.«

Dennoch sind mit der Entwicklung des Internets und der mobilen digitalen Medien neue Herausforderungen in der Qualitätsdiskussion entstanden, die sich nicht nur als ein quantitativer Zuwachs beschreiben lassen, sondern auch struktureller Natur sind und mit den tiefgreifenden Veränderungen zu tun haben, die die mediale Öffentlichkeit dank der neuen digitalen Medien erfahren hat.

Das wurde bereits in den 90er Jahren, als das Internet gerade erst einem allgemeinen Publikum zugänglich gemacht worden war, von einer Reihe von Visionären und Utopisten erkannt. So proklamierte beispielsweise der Journalist und spätere TIME-Redakteur Joshua Quittner schon im Jahr 1995 einen »Way New Journalism«[1], der durch das World Wide Web möglich gemacht werde, und der sich unter anderem durch ein hohes Maß an Partizipation und Verlinkung nicht nur der Akteure, sondern auch der Inhalte auszeichne. Wenige Monate später, im Februar 1996, legte der Poet und Medienaktivist John Perry Barlow, ausgerechnet vom World Economic Forum in Davos aus, mit einer »Declaration of the Indepence of Cyberspace«[2] nach, in der er die Vision eines herrschaftsfreien Kommunikationsraumes heraufbeschwor und damit die Utopie des Internets von einer medialen auf die politische Ebene hob.

John Perry Barlow
(Foto: Joi Ito / flickr CC-BY 2.0)

Die Hoffnungen dieser und anderer Propheten des frühen Internetzeitalters bildeten den Grundbestand einer Reihe neuer qualitativer und moralischer Ansprüche, an denen sich künftige, internetbasierte Publizistik würde messen lassen müssen.

Eine zentrale Beobachtung war die Ermächtigung der Amateure: Das Internet machte es möglich, dass praktisch jedermann mit geringem Aufwand zum Publizisten werden kann. Am Anfang ging es noch um einfache Webseiten, dann kamen sehr schnell individuelle Blogs und Onlinemagazine, Podcasts, Videokanäle hinzu. Im Sinne der Visionäre erschlossen sich hier ungeahnte Möglichkeiten sozialer, kultureller und politischer Partizipation, die bis in die kommerzielle Sphäre hinein wahrgenommen wurden. »Märkte sind Gespräche«, hieß es 1999 im »Cluetrain Manifesto« einiger einflussreicher US-amerikanischer Marketing-Gurus[3]. Wer diesen Partizipationsraum im Internet ignorierte oder durch Verweigerung von Interaktionsmöglichkeiten gar blockierte, musste sich harsche Kritik gefallen lassen.

Eine zweite Beobachtung betraf die potentielle Erschließung und Bereitstellung immenser Informationsmengen. Wenn es technisch möglich war, alle Wissensbestände der Welt praktisch kostenlos öffentlich zugänglich zu machen, warum sollte dies dann nicht auch gesellschaftlich angestrebt werden? »Information wants to be free« – dieser Slogan der Hackerbewegung, zum ersten Mal aktenkundig ausgesprochen von Über-Hippie Stewart Brand auf einer Hackerkonferenz im Jahr 1984, wurde zu einem weiteren Eckpfeiler des neuen Internet-Ethos.

Schnell waren hier die großen Player in Unterhaltungsindustrie, Technologie und Wissenschaftsbetrieb als Gegner ausgemacht, die auf geistigen Eigentumsrechten bestanden und dafür bereit waren, den freien Informationszugang mit restriktiven Maßnahmen auch künstlich zu beschränken.

Natürlich wurden viele dieser Visionen schnell von der harten Realität eingeholt. Der Cyberspace erwies sich keineswegs als herrschaftsfreier Raum, sondern wurde mehr und mehr zum Schauplatz mächtiger, zunächst vor allem kommerzieller und später auch staatlicher Interessen. Auch das Ideal der Partizipation hat angesichts von Hate Speech und massiven populistischen und propagandistischen Kampagnen im Netz gerade in den letzten Jahren erheblich gelitten. Aber ein normativer Grundbestand, der sich aus den Hoffnungen der frühen Visionäre ableiten lässt, prägt unterschwellig auch weiterhin den Qualitätsdiskurs der Internetpublizistik.

Innovationen

In den gut 25 Jahren, die das Internet jetzt für die Öffentlichkeit zugänglich ist, haben wir eine beispiellose Welle von verschiedensten Innovationen erlebt. Auf der Grundlage permanenter Beschleunigung, immer kleinerer, mobilerer Geräte mit immer größeren Rechen- und Speicherkapazitäten hat sich vor unseren Augen ein gewaltiges Ökosystem von neuen Publikations- und Kommunikationswegen, neuen Anbietern und Diensten entwickelt und entwickelt sich beständig in großem Tempo weiter.

Für den Qualitätsdiskurs stellt sich angesichts dieser Innovationswucht und der hohen Geschwindigkeit der Entwicklungen die Frage einer angemessenen Reaktion. Welche Qualitätsansprüche lassen sich direkt aus einzelnen Innovationen ableiten? Ist das Neue per se gut? So trivial eine negative Antwort auf diese Frage erscheint, gibt es doch einen Sog der Innovation, einen Enthusiasmus angesichts der frischen Idee, dem man sich gelegentlich bewusst entziehen muss.

Als hypothetisches Beispiel mag hier die Blockchain-Technologie angeführt werden, die insbesondere in Form der spektakulären Digitalwährung Bitcoin eine zeitlang für große Begeisterung in der Fachwelt gesorgt hat. Ganz abgesehen von den möglichen disruptiven und destruktiven Auswirkungen auf das globale Finanzsystem: Wie lange hat es gedauert, bis endlich jemand den beängstigenden ökologischen Fußabdruck des extrem rechenintensiven und damit Energie verschwendenden Bitcoin-Mining ermittelt hat? Angenommen, die Grimme-Online-Jury hätte im Jahre 2017, als der Hype begann, ein publizistisches Startup für sein innovatives Bitcoin-basiertes Geschäftsmodell ausgezeichnet, würde uns das jetzt im Jahr 2019, im Jahr der Fridays-for-Future-Proteste und Greta Thunberg, nicht als äußerst voreilig erscheinen?

Nun sollte uns die Strategie der klugen Else aus dem Grimm’schen Märchen gleichen Namens, die angesichts allerlei imaginierter ferner Konsequenzen einer Handlung schon vorab ins Weinen verfällt, nicht zum Vorbild dienen. Gerade in Deutschland herrscht eine teilweise erschreckende Innovations- und Risikofeindlichkeit, und auch wenn wir uns darauf verständigen können, dass das Neue nicht per se gut ist, so ist es doch andererseits mit Sicherheit schlecht, sich dem Neuen komplett zu verschließen und nicht zumindest einmal neugierig die Nase in den Wind zu halten.

Nicht vergessen darf man, dass publizistische Qualität immer in einem Kontext besonderer gesellschaftlicher Verantwortung steht. So sollte die Innovation nicht nur im Hinblick auf ihre direkten Potenziale für das publizistische Produkt wahrgenommen und beurteilt werden, sondern auch in ihrem weiteren gesellschaftlichen Rahmen. Ich denke hier beispielsweise an die Entscheidung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ihr audiovisuelles Jugendangebot funk auch und vor allem über kommerzielle Intermediäre wie YouTube auszuspielen – eine innovative Entscheidung, die ich für ambivalent halte, obwohl sie der Reichweite und dem Publikumserfolg der funk-Kanäle sicher zugute kommt. Aber im Interesse des Gemeinwohls, dem sich die öffentlich-rechtlichen Medien verpflichtet fühlen, wäre es aus meiner Sicht besser gewesen, den kommerziellen Anbietern eine eigene, nicht-kommerzielle Plattform entgegenzusetzen, statt sich den intransparenten Algorithmen und Geschäftszielen von Google und Co. auszuliefern und diese damit weiter zu stärken.

Moden

Im Alltag der Nominierungskommission und Jury des Grimme Online Award geht es beim Thema Innovation jedoch meist eher um so banale Dinge wie die Unterscheidung kurzfristiger Hypes von nachhaltigeren Trends. Auf der Jagd nach funktionierenden Geschäftsmodellen werden in den digitalen Medien ständig neue Moden generiert, die sowohl Produkte und Dienste als auch ihre sozialen Verwendungsmodelle umfassen. Keine darf ignoriert werden, aber man muss lernen, sie zu relativieren und zu kontextualisieren.

Müssen wir es etwa würdigen, wenn Redakteure dieser oder jener Boulevardzeitung schon sehr früh einen passablen Snapchat-Channel auf die Beine gestellt haben? Im folgenden Jahr spricht niemand mehr von Snapchat, aber das Format der Foto- und Video-Storys, das dort entwickelt worden ist, hat sich auf Facebook und Instagram erfolgreich durchgesetzt. Jetzt kann man guten Gewissens die wirklich hervorragenden »Mädelsabende« des WDR auf Instagram prämieren, auch wenn die Mädels vielleicht nicht die allerersten waren, die die schicken schnellen Hochkantvideos mit Erfolg ausprobiert haben.

Das Team der “Mädelsabende”
(Foto: Rainer Keuenhof / Grimme-Institut CC BY-NC-SA 2.0)

Und wenn man Glück hat, darf man beobachten, wie die Community einen der neuen gehypten Dienste selbst in die Hand nimmt und ihn sich kurzerhand nach eigenen Vorstellungen nachhaltig zurechtbaut. So geschehen zum Beispiel in den Jahren nach der Gründung des Kurznachrichtendienstes Twitter im Jahr 2006, als die Nutzer eigenhändig die Verschlagwortung der Twitter-Meldungen mithilfe von Hashtags einführten, sowie die Referenzierung anderer Nutzer mit dem @-Symbol. Daraus entstand Magie – eine Magie, die es möglich machte, dass einige Jahre später zum ersten Mal ein Twitter-Hashtag, #aufschrei, den Grimme Online Award erhielt. Was ist es, das hier prämiert wurde? Ein Schlagwort? Ein Thema? Eine Kampagne? Eine Community? Der Social-Media-Forscher Axel Bruns hat den Effekt eines funktionierenden Twitter-Hashtags eine »Ad-hoc-Öffentlichkeit« genannt. Es war wohl das erste Mal, dass eine spontane Zusammenrottung einen Medienpreis erhielt.

Akteure

Die Beispiele Guttenplag und #aufschrei zeigen, dass im Internet sowohl die preiswürdigen Werke als auch die verantwortlichen Akteure vielfältiger geworden sind. Auf der Ebene der Akteure sind es neben den schon erwähnten Amateuren, die in großer Zahl mit eigenen Blogs, Podcasts, Instagram- oder Twitterkanälen erfolgreich sind, zunehmend auch Kollektive, die Erstaunliches leisten. Sie machen sich die Netzwerkstruktur und die kollaborativen Möglichkeiten des Internets zunutze. Längst muss man über kein gemeinsames Redaktionsbüro mehr verfügen, um beispielsweise ein komplexes Onlinemagazin auf die Beine zu stellen, und auch die moderatere Kostenstruktur hat die Fallhöhe für gemeinsame publizistische Projekte deutlich verringert. Aber natürlich bleibt die Suche nach einem nachhaltigen Geschäftsmodell gerade in der Onlinepublizistik eine wesentliche Hürde.

Hier, in den frühen Stufen der publizistischen Wertschöpfung, finden sich weitere Innovationen, die in die Qualitätsbewertung einfließen: Neue Formen der Zusammenarbeit, neue Erlösmodelle werden stolz als Leistung in die Waagschale geworfen. Mit Crowdfunding oder anderen Formen zivilgesellschaftlicher Förderung versuchen die neuen Anbieter die Diffusion der Anzeigenmärkte und die geringe Zahlungsbereitschaft im Internet auszugleichen. Auch hier ist es manchmal sinnvoll, in der Beurteilung der Nachhaltigkeit der Modelle erst einmal ein, zwei Jahre zu warten und nicht dem ersten Bewertungsimpuls zu folgen.

In der Vielfalt und der wirtschaftlichen Volatilität der neuen Akteure liegt ein weiteres Risiko verborgen, bei dem es um die publizistische Unabhängigkeit geht: Nicht immer sind auf den ersten Blick die Verpflichtungen erkennbar, unter denen die Anbieter stehen. Die sogenannten ›Influencer‹ in den sozialen Medien, die mit teilweise gewaltigen Reichweiten ihren persönlichen Lebensentwurf auf die digitale Bühne stellen, stehen als personalisierte Litfaßsäulen exemplarisch für eine Zeit verschwimmender Grenzen zwischen unabhängiger Publizistik und interessengesteuerter Public Relations und Werbung.

Fragmentierung

Auf der Ebene der Werke und Produkte hat sich ebenfalls viel getan in den letzten Jahren. Das hängt vor allem mit den veränderten Rezeptionsgewohnheiten zusammen. In den digitalen Medien spielen traditionelle publizistische Bündelprodukte wie Zeitungen, Zeitschriften, Sendungen und ihre dazugehörigen Medientitel oder Marken prima facie eine geringere Rolle als im prädigitalen Zeitalter. Die neuen Rezipienten konsumieren ihre Medien in der schnellen Taktung und zunehmenden Fragmentierung ihrer Suchanfragen oder Timelines auf Instagram, Facebook oder Twitter. Dort begegnen ihnen zwar auch weiterhin Beiträge aus klassischen Medienmarken wie ZDF, Zeit, Spiegel oder Deutschlandfunk, aber nicht im vorhersehbaren Rhythmus des gebuchten Abonnements oder des regelmäßigen Sendeplatzes, sondern nach der nicht immer nachvollziehbaren Logik jener Algorithmen, mit denen die Intermediäre die Aufmerksamkeit ihrer Kunden steuern, durchmischt mit allerlei Inhalten anderer, nicht immer seriöser Provenienz.

»In Zeiten von Google bedarf jeder Artikel seines eigenen Geschäftsmodells«, so hat es einmal der damalige Focus-Online-Chef und jetzige Chefredakteur von Zeit Online und Co-Chefredakteur der Zeit, Jochen Wegner, formuliert. Es ist ein anderes Spiel, dessen Regeln die neuen digitalen Öffentlichkeiten bestimmen. Und auch hier gilt wieder die Beobachtung über den Druck der Innovation: Es ist sicher nicht alles gut, was hier passiert, aber es ist ebenso sicher nicht besser, sich diesen Entwicklungen entgegenzustemmen oder zu verweigern.

Auch macht sich, gerade im audiovisuellen Bereich, eine Gegenbewegung gegen die beschriebene Fragmentierung bemerkbar: Dort hat die Befreiung von den Zwängen linearer Programmierung in den klassischen Rundfunkkanälen zusammen mit der wachsenden Qualität mobiler Endgeräte zu einem beispiellosen Boom abonnierbarer Podcasts geführt – ein Zeichen, dass Marken und verlässlich wiederkehrende Formate die Fragmentierung in der digitalen Öffentlichkeit nicht nur überstehen, sondern dass ihnen dank ihrer Orientierungskraft sogar möglicherweise in Zukunft eine besondere Rolle zukommt.

Interaktivität

Das Beispiel zeigt, dass die Trends, die die Publizistik im Internet auszeichnen und deren Wahrnehmung bei der Qualitätsbewertung eine wichtige Rolle spielt, nicht immer linear und unidirektional erfolgen. Verschiedene Entwicklungslinien können durchaus gegenläufiger Natur sein. Ein weiteres Beispiel dafür ist das eingangs schon angesprochene Thema Partizipation und Interaktivität. Während es in den frühen Jahren noch weitgehend unkontrovers war, dass die aktive Einbeziehung des Publikums grundsätzlich etwas Lobenswertes und Gutes ist, hat sich diese Wahrnehmung in den letzten Jahren angesichts der zunehmenden Verrohung der interaktiven Reviere des Netzes deutlich relativiert.

Heute wird man bei der Bewertung mehr Gewicht darauf legen, in welcher Form Interaktivität angeboten wird und wie das Qualitätsmanagement in den interaktiven Bereichen aussieht. Um ein publizistisches Produkt herum eine gut funktionierende Community aufzubauen, ist aufwändig und kann gerade bei kleineren Anbietern so viel Reibungsverluste erzeugen, dass man es ihnen nachsehen würde, wenn sie diese Dimension ihrer publizistischen Anstrengung zu begrenzen versuchten.

GOA-Preisträgerin Barbara über GOA-Preisträger #ichbinhier

Und plötzlich geraten Initiativen in den Fokus, die das entstandene Problem, das offensichtlich struktureller Natur ist, direkt angehen. So zum Beispiel die Facebookgruppe #ichbinhier, die auf komplett freiwilliger Basis ihre Mitglieder in besonders aggressiv geführte Auseinandersetzungen in den Kommentarbereichen deutschsprachiger Onlinemedien schickt, mit dem Ziel, potentiellen Opfern von Hass und verbaler Gewalt zur Seite zu stehen und insgesamt einen moderierenden Einfluss auf das Diskussionsklima auszuüben.

Tektonik

So steht man in der Arbeit der Nominierungskommission oder Jury des Grimme Online Award, wie auch generell bei der qualitativen Bewertung aktueller onlinepublizistischer Arbeit, zunächst einmal vor der Herausforderung, einen guten analytischen Überblick über die strukturellen Besonderheiten des digitalen Kommunikationsraumes zu bekommen. Dazu gehören neben den bereits angesprochenen Themen auch noch andere, zum Beispiel technologische oder ökonomische Rahmenbedingungen. Wie beurteilen wir ein sonst hochwertiges Angebot, das aber komplett an den zugänglichen Bandbreiten in der Datenübertragung vorbei konzipiert ist? Beispielsweise ein datenintensives Mobilangebot, das sich speziell an junge Zielgruppen richtet, die sich normalerweise noch keine leistungsfähige Daten-Flatrate leisten können? Oder was sagen wir, wenn öffentlich-rechtliche Anbieter mit dem sicheren Polster beitragsfinanzierter Budgets sich offenkundig in heißumkämpfte Wettbewerbsschauplätze privater Medienanbieter einmischen und nun mit diesen auch um unsere Anerkennung ringen?

Die Antworten auf solche Fragen sind keineswegs trivial, und deshalb wird in den Gremien auch immer wieder, und auf immer wieder neue Weise, hart gestritten. Es gibt wohl kaum einen lehrreicheren Ort, um das komplexe Ökosystem der digitalen Öffentlichkeiten in all seinen Dimensionen und seiner Dynamik verstehen zu lernen.

So ging es los: iPhone 1 (2007)
(Foto: drnan tu / flickr CC BY-SA 2.0)

Dabei gilt es, einen Blick für die den kurzfristigen Hypes zugrundeliegenden, langsameren, tektonischen Bewegungen zu schärfen, die relevanter, aber auch schwerer zu erkennen sind. Was beispielsweise bedeutet der bevorstehende Wechsel zum 5G-Standard in der Mobilkommunikation für die künftige Onlinepublizistik? Man befindet sich in einer Lage, die ein bisschen mit den Jahren 2007 bis 2009 vergleichbar ist. Damals hatte Apple mit dem iPhone das mobile Internet aufgeschlossen, und man geriet in die Versuchung, Anbieter für die simple Tatsache zu loben, dass sie ihr Angebot nun auch als Smartphone-App bereitstellten – eine Leistung die heute, 10 Jahre später, keiner Erwähnung mehr wert wäre.

Verantwortung

Ein Preis wie der Grimme Online Award bietet eine Bühne, auf der die Qualitätsdiskussion über Onlinemedien exemplarisch geführt wird, und die damit auch zu einer gesellschaftlichen Selbstverständigung darüber beiträgt, wie der digitale Medienraum insgesamt wahrgenommen und beurteilt werden kann und sollte. Damit stehen das Grimme-Institut, die Nominierungskommission und die Jury in einer großen Verantwortung, nicht nur gegenüber den Anbietern und Bewerbern, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit und der Gesellschaft insgesamt. Diese haben ein Anrecht auf Nachvollziehbarkeit der Qualitätsurteile, und somit auch auf eine gewisse Stabilität und Berechenbarkeit, auf eine Beurteilungspraxis, die auf aktuelle Entwicklungen reagiert, ohne ihnen hektisch hinterherzurennen.

Diesem Anspruch gerecht zu werden ist eine schwierige, aber lösbare Aufgabe. Dass das nicht immer konfliktfrei abgeht, und dass dabei auch gelegentlich Fehler gemacht werden, ist unvermeidbar. Hier helfen Transparenz, der gelegentliche Mut zur unpopulären Entscheidung und auch immer wieder die Bereitschaft zur Kursbereinigung oder Korrektur.


  1. J. Quittner: »The Birth of Way New Journalism«, in: HotWired (1995), zugänglich unter https://archive.gyford.com/1995/11/13/HotWiredDemo/i-agent/(letzter Zugriff 15.01.2020). ↩︎

  2. Zugänglich unter https://www.eff.org/de/cyberspace-independence (letzter Zugriff 15.01.2020). ↩︎

  3. Levine, Fredrick et al.: The Cluetrain Manifesto. The end of business as usual, New York 1999. ↩︎

Dieser Beitrag erschien zuerst in dem Reader:

Frauke Gerlach (Hg.): Medienqualität. Diskurse aus dem Grimme-Institut zu Fernsehen, Internet und Radio. Bielefeld 2020, transcript Verlag

Diese Aufsatzsammlung steht komplett unter der Lizenz CC-BY-NC-ND